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Meditation

Was wir heute landläufig ›Meditation‹ bezeichnen, geht auf alte kontemplative Weisheitstraditionen zurück. Diese sind reich und vielfältig; wo wir mit ihnen in Berührung kommen, ist eine solche Begegnung oft überraschend konkret und persönlich: geprägt nicht nur von der Tradition, der wir begegnen, sondern auch von unserem eigenen biografischen Hintergrund und jenem der Lehrenden dieser Tradition.

Nach ersten Berührungen mit Meditation im christlichen Umfeld während meiner Schulzeit, habe ich in Europa einige Jahre in der Soto-Zen-Linie praktiziert; danach war mein meditatives Lernen im Wesentlichen durch die frühbuddhistische Überlieferung geprägt. Viele der Menschen, die mich in den folgenden Jahren die praktischen Schritte kontemplativen Verstehens gelehrt haben, waren klösterliche und nicht-klösterliche Lehrer und kalyāna-mittas (›vorzügliche Freunde‹), besonders aus der thailändischen Waldtradition und ihren westlichen Ablegern. In späteren Jahren haben mich meine therapeutischen Ausbildungen zu einem tieferen Erkennen spezifischer Bedürfnisse bei Praktizierenden geführt und mein Gespür für Entwicklungs-, Temperaments-, Beziehungs- und Trauma-Themen geschärft. Meine Begegnungen mit Lehrenden anderer Traditionen und mein Studium der breiteren indischen buddhistischen Überlieferung haben meine Wertschätzung für die psychologische und kontemplative Weisheit jenseits der Waldtradition vertieft.

Wenn frühbuddhistische Darlegungen von Meditation sprechen, so wird deutlich, wie irreführend der abendländische Begriff ›Meditation‹ im Grunde dafür ist: Das lateinische ‚meditari‘ – ›nachdenken, grübeln‹ – hat nur wenig mit dem zu tun, was buddhistische Traditionen unter dem Begriff bhāvanā, ›Entfaltung des Geistes‹ verstehen. Dieser schöne Begriff heißt wörtlich ›Ins-Dasein-Rufen‹. Die buddhistischen Traditionen Indiens verwenden ihn, um eine breite, vierfache Schulung zu darzulegen:

(i) eine Schulung des Körpers (kāya-bhāvanā) und unserer Beziehung zur physischen Welt (einschließlich der Sorge um die Biosphäre dieses Planeten!);

(ii) einem Training in Ethik (sīla-bhāvanā) und unserer Beziehung zur sozialen Welt;

(iii) vielleicht am bekanntesten, einem Training des Geistes (citta-bhāvanā) – dieses umfasst neben der eigentlichen Sammlung des Geistes auch die Übungen der ›Entfaltung des Herzens‹ (brahmavihāra) in den Dimensionen des Wohlwollens, des Mitgefühls, der Freude und des Gleichmuts – Themen, denen viele der Lehrreden gewidmet sind;

(iv) schließlich ist bhāvanā eine Schulung in tiefem und transformativem Verständnis (paññā-bhāvanā) konditionaler Bedingtheit und ihrer Implikationen sowie einer praktischen und alltagstauglichen Weisheit, die uns über unsere spezifischen Herausforderungen hinauszuwachsen hilft, uns zu kompetenten und fürsorglichen Menschen reifen und uns in unserer Vision und den nötigen Schritten auf dem Pfad unabhängig werden läßt.

Zu einer solchen Entfaltung gehören im Allgemeinen die Unterstützung durch Freunde, Lehrer und eine Weggemeinschaft, die Anerkennung der prägenden Kräfte und Aufarbeitung der Muster in der eigenen Geschichte. Neben kontinuierlicher Schulung der Aufmerksamkeit (manasikāra), Achtsamkeit und des Gewahrseins (sati) in ihren verschiedenen Facetten, dem Training der Geistessammlung (samatha) gehören zu einer umfassenden Einsicht (vipassanā) auch der Zuwachs an emotionalen und Beziehungskompetenzen und der Erwerb von Fähigkeiten, Achtsamkeit über das Meditationskissen hinaus zur Anwendung zu bringen.

Auf allen Stufen einer solchen Schulung ist die Kultivierung von bodhicitta wesentlich, dem genuinen Wunsch aus aller Unmündigkeit zu erwachen, sich aktiv zu befreien, seine Empathie für andere auszubilden und mitfühlend gegenüber anderen Wesen zu handeln.

Achtsamkeit und Geistesgegenwart

Die unverzichtbare praktische Grundlage für all diese Aspekte der Herzensentfaltung ist die Schulung der Achtsamkeit und die Herbeiführung von Geistesgegenwart: Ein anhaltendes und ergründendes Gewahrsein (sati) von Augenblick zu Augenblick erlaubt die klärende und verwandelnde Einsicht in die Verstrickungen des Geistes und erschließt zugleich die ungeahnten Kräfte des eigenen Herzens.

Die praktischen Übungen im Verlauf eines Meditationsretreats beginnen mit Körpergewahrsein (kāyagata-sati) und Atemachtsamkeit  (ānāpānasati) um innere Stille und eine verkörperte Geistesgegenwart zu gewinnen. Nach und nach wird das meditative Gewahrsein in praktischen Übungen erweitert und das ›Herbeiführen von Geistesgegenwart‹ (satipaṭṭhāna) in vier Bereichen geschult, wie sie uns in der alten Weisheitstradition des frühen Buddhismus überliefert werden.