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Atammaya – ein alter Klang mit neuer Wirkung

Der Begriff atammaya ist schwer unter einen deutschen Hut zu bringen. Er entstammt den Lehrreden des Pali-Kanons, wo er in einigen wenig bekannten Passagen auftaucht. Es ist das Verdienst Ajahn Buddhadāsas (und seines Übersetzers Santikaro), daß dieses faszinierende Konzept spiritueller Freiheit in jüngerer Zeit wieder Aufmerksamkeit erfahren hat.

Atammaya in den Suttas

Bereits die alten Kommentare zu den Lehrreden des Pali wirken seltsam ratlos mit dem Begriff, identifizieren ihn etwas hilflos und unvermittelt mit »Abwesenheit von Begehren« (MA iv 99 u. MA v 27), ohne auf seine Dimension von Nicht-Identifikation einzugehen und sind mehr als zurückhaltend in ihren Ausführungen. Die verschiedenen Überlieferungslinien des Theravāda haben das Konzept bis in die jüngste Zeit mit keiner besonderen Aufmerksamkeit bedacht. Umso außerordentlicher ist die Darstellung von atammayatā in den Lehrreden selbst: im Sinne einer Nicht-Identifikation selbst mit subtilsten meditativen Erfahrungen wie der von Weder-Wahrnehmung-noch-Nicht-Wahrnehmung (M iii 94 ) oder als Hilfe, um feinste Anhaftungen an Gleichmut zu überwinden (M iii 220), schließlich als innere Haltung des Nicht-Verstricktseins eines ›Weltenkenners‹ (lokavidū) und befreiten Weisen (muni) gegenüber allen Dingen (A 3.40 / A i 150). In der unten zitierten Passage wird atammayatā als eine Anrufung an diese innere Möglichkeit einer losgelösten und unverstrickten Haltung im Zusammenhang mit Dünken (māna), und Persönlichkeitsansicht (sakkāydiṭṭhi) und Selbstkonstruktion verwendet (A 6.104 / A iii 444).

Zur Übersetzung

Das Wort a-tam-maya ist ein adjektivisches Kompositum; die Aufgliederung seiner Bestandteile ist nicht schwierig:

a – ›nicht‹,
tam – ›daraus / davon‹,
maya – ›bestehend‹ / ›gemacht‹

Wörtlich also ›nicht-daraus-gemacht‹. Gelegentlich auch substantiviert und mit einem zusätzlichen – als Abstraktionssuffix:

atammayatā – ›Nicht-daraus-gemacht-heit‹

Im übertragenen Sinn und weniger umständlich: ›Nicht-Identifikation‹ oder, etwas freier, ›Unverstricktheit‹.

Eine Begriffsgeschichte

Auch der gegenteilige Begriff – tammaya ohne das Negativ-Präfix a- (›bestehend aus diesem‹ / ›von dieser Art‹) – taucht in den Pali-Lehrreden auf; er ist durchwegs negativ besetzt (z.B. M i 319, Sn 846).

In seiner Kritik an tammaya benennt der Buddha indirekt eine aus Sicht seiner Lehre problematische Haltung der Vedas, welche die Bereiche der Erkenntnis und der Ontologie nicht unterscheiden. Das zeigt sich anschaulich an einer Auffassung, die sich im vedischen Begriff tan-mayatā (›bestehend-aus-diesem‹) verdichtet. Diese Auffassung besagt, daß der Geist, der sich gesammelt und in ausschließlicher Ausrichtung auf das brahman befinde, gänzlich zu diesem brahman werde – daß der meditierende Geist im Akt des Erkennens mit dem erkannten Gegenstand identisch und wesensgleich würde. Der Ursprung dieser Idee, so Gombrich, wurzelt offenbar in einer Theorie der Sinneswahrnehmung, für welche die ergreifende Hand als zentrale Analogie dient: »So wie die Hand die Form des umschlossenen Gegenstandes annimmt«. Eine ähnliche vedische Vorstellung betrifft das Sehen, bei welchem das Auge eine Art Strahl aussendet, der die Form des Gesehenen aufgreift und zum Auge zurückträgt; desgleichen beim Denken – dieses entspräche dem wahrgenommenen Gegenstand und würde mit seinem Objekt übereinstimmen (Gombrich, 1996). Tan-maya-tā im vedischen Kontext bringt also auf den Punkt, daß ein gesammelter und ausgerichteter Geist mit dem erschauten Gegenstand wesensgleich wird.

Diese der vedischen Geisteswelt noch plausible Auffassung ist dem Denken des Buddha bereits fremd: Bewußtsein, auch in seinen subtilsten Formen, ist mit seinen Objekten nicht identisch (M i 258) sondern ausnahmslos bedingt entstanden, prozesshaft und modulierbar. – Auch aus heutiger Sicht ist die Identifkation von Bewußtsein und seinen Inhalten schwer nachvollziehbar. Wenngleich Absichten und Gedanken auf Dauer Wirklichkeiten zu schaffen vermögen, gilt doch, psychologisch gesprochen, ›psychische Äquivalenz‹ – die Aneignung und völlige Identifikation der Erlebenden mit gedachten oder vorgestellten Geistesinhalten – als Ausdruck eines frühkindlichen Entwicklungsstadiums oder vielmehr einer zeitweiligen Regression in ein solches.

Eine Vision von Freiheit

Der Begriff a-tammaya in den buddhistischen Darlegungen ist die Negation dieses vedischen Verständnisses einer »Wesensgleichheit des Geistes mit seinen Inhalten« – der Geist und seine Inhalte sind nicht identisch. Wie sehr der im Wasserglas gelöste Sand herumgewirbelt wird und die Flüssigkeit homogen trübe erscheinen läßt: Sobald das Glas abgesetzt und sein Inhalt ruhig wird, setzt sich der Sand und klärt sich das Wasser, zeigen sich Geist und seine Objekte in ihrer Verschiedenheit. – Atammayatā in den Darlegungen des frühen Buddhismus ist Ausdruck dieses ›Nicht-von-dieser-Art-Seins‹.

Ein solches ›Unverstricktsein inmitten der Dinge‹ ist eine der Verheißungen spiritueller Verwirklichung aus der Sicht des Buddha. Etwas genauer gefasst, manifestiert sich eine solche Verwirklichung in zwei Richtungen: In einer objektbezogenen, nach außen gerichteten Perspektive verdeutlicht dieses Unverstricktsein die Haltung des ›Nicht-Gestaltens‹ bzw. des ›Nicht-Verdinglichens‹ der über die Sinne erfahrenen Welt durch den sie erlebenden Geist. Umgekehrt, in einer subjektiven und nach innen gerichteten Perspektive, entspricht atammayatā einer Haltung des ›Nicht-Anhaftens‹, der ›Nicht-Identifikation‹ und des unverstrickten Umgangs mit den erlebten Geistesinhalten.

Akincano | ๛  2013 – 2021

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Aus den Lehrreden der Angereihten Sammlung:

Unbeschränkte Vorstellung der Unpersönlichkeit (Atammaya Sutta)

Wenn eine Almosengängerin sechs Segnungen bedenkt, Praktiziende, so ist es zweifelsohne genug für sie, um uneingeschränkt die Vorstellung der Unpersönlichkeit aller Dinge in sich zu erwecken. Welches nun sind diese sechs Segnungen?

›Hinsichtlich dieser ganzen Welt werde ich ohne Anhaften und Identifikation (atammaya) sein.
Die Ich-Bezogenheit (ahaṅkārā) meines Denkens wird schwinden.
Die Mein-Bezogenheit (mamaṅkārā) meines Denkes wird schwinden.
Außergewöhnliche Erkenntnisse werden mir zuteil.
Die Ursachen werden mir klar ersichtlich,
sowie die aus Ursachen entstandenen Dinge.‹

A 6.104 / A iii 444  |  (Übersetzung: Akincano)

“cha, bhikkhave, ānisaṃse sampassamānena alameva bhikkhunā sabbadhammesu anodhiṃ karitvā anattasaññaṃ upaṭṭhāpetuṃ.
katame cha?
sabbaloke ca atammayo bhavissāmi,
ahaṅkārā ca me uparujjhissanti,
mamaṅkārā ca me uparujjhissanti,
asādhāraṇena ca ñāṇena samannāgato bhavissāmi,
hetu ca me sudiṭṭho bhavissati,
hetusamuppannā ca dhammā.
ime kho, bhikkhave, cha ānisaṃse sampassamānena alameva bhikkhunā sabbadhammesu anodhiṃ karitvā anattasaññaṃ upaṭṭhāpetun”ti.  | ๛  (A iii 444)

Literatur zu atammaya / atammayatā:

Kanonische Stellen:
M 113; M 137; A 3.40 / A i 150; A 6.104 / A iii 444; Sn 850 (852) na tammayo

Deutsche Übersetzungen:
Nyanatiloka Thera: Die Lehrreden des Buddha aus der Angereihten Sammlung. Aurum Verlag (5. Aufl.) 1993
Sabbamitta Anagarika: Sammlung der Nummerierten Lehrreden, 2021 / AN 6.106 |
Englische Übersetzung:
Sujato Bhikkhu: https://suttacentral.net/an6.104

Sekundäre Literatur:
– Sferra, Francesco: Atammayatā in the Pāli Nikāyas. In: Annali. Università Degli Studi Di Napoli “l’Orientale” Napoli, 2007, lxvii
– Gombrich, Richard: How Buddhism Began. The Conditioned Genesis of the Early Teachings. 1996, S. 86 (In: III Metaphor, Allegory, Satire)
– Santikaro: Atammayata: Rebirth of a Lost Word, 1993.
– Tan, Piya: Atammayatā. Not Making Anything of That: An Introductory Study of an Ancient Term, 2007.
– Nyanananda, Bhikkhu: The Magic of the Mind: An Exposition of the Kālakārāma Sutta. Kandy, 1974. (S. 52)
– Nyanananda, Bhikkhu: Concept and Reality in Early Buddhist Thought. Kandy, 1971. (S. 32-34)
– Amaro, Ajahn/Pasanno, Ajahn: The Island: An Anthology of the Buddha’s Teachings on Nibbāna. 2009. (In: VI Atammayatā: “Not made of that”)